
31 Jul All die Menschen, die ich überlebt habe
Schwarzer Kaffee, unzählige Bücher und auf Papierservietten gekritzelte Gedichte: Mit M Train schreibt Patti Smith zwar keine Fortsetzung von Just Kids. Dafür zeigt der zweite Teil ihrer Memoiren aber wunderbar melancholisch, wie wichtig das Loslassen im Leben ist.
An einem Cafétisch im New Yorker West Village: Patti Smith schaut gedankenverloren zur Seite, sie hat ihre Wollmütze auf und vermutlich die Haare nicht gekämmt. Sie bestellt Vollkorntoast, eine kleine Schale Olivenöl und schwarzen Kaffee – wie fast jeden Morgen im Café ‚Ino. An diesem Tag hat sie ihre alte Kamera dabei. Das Buchcover zeigt Patti Smiths Leben in a Nutshell. Der schwarze Kaffee, den sie literweise trinkt. Die Bücher, die sie verschlingt. Die Fotografien, mit denen sie ihr Leben festhält. Die Erinnerungen, die sie in sich trägt. Das Café ‚Ino ist der Ort, an dem M Train beginnt. Patti Smith flüchtet sich nach einem verstörenden Traum dorthin. Bald hängt sie ihren Erinnerungen nach und wir folgen ihr nach Französisch-Guyana, das sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Fred Sonic Smith bereist hatte. Es folgen weitere Erinnerungen: Eine Reise nach Japan, nach Deutschland, nach Island, nach Marokko. Dazwischen: Szenen des Alleinseins.
Das Café war leer, aber der Koch schraubte die Steckdose über meinem Platz ab. Ich ging mit meinem Buch zur Toilette und las, während er weitermachte. Als ich zurückkam, war der Koch fort und eine Frau setzte sich gerade an meinen Platz.
– Entschuldigung, das ist mein Tisch.
– Haben Sie ihn reserviert?
– Na ja, das nicht, aber er ist mein Tisch. – S. 99
Patricia Lee Smith – für die einen Patti, für die anderen „Godmother of Punk“, geboren 1946 in South Jersey – blickt mit knapp 70 Jahren auf ihr Leben zurück. „Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben“, sagt sie zu Beginn des Buches. Gleichzeitig scheint Patti Smith aber auch gegen das Nichts zu schreiben, das in einem zurückbleibt, wenn die Menschen sterben, die man liebt. Aus ihrem Leben sind viele Menschen gegangen: Robert Mapplethorpe, ihre Eltern, Fred Sonic Smith, Todd Smith, Andy Warhol, Richard Arthur Sohl…zählte man alle auf, entstünde eine lange Liste gelebter und verlorener Leben. Ihre Erinnerungen sind das, was Patti Smith bleibt. In einem Gespräch mit der ZEIT sagte Patti Smith, dass sie eigentlich ein Buch über den Fluss der Gegenwart schreiben wollte, doch stattdessen driftete sie immer wieder in die Vergangenheit ab: Ein Gespräch mit Zak, dem Besitzer des Café ‚Ino, führt sie zurück nach Französisch-Guyana. Ein geerbter Topf, in dem sie ihren Kaffee kocht, erinnert sie an ihre Mutter in der Familienküche in South Jersey. Eine strenge Chronologie gibt es in M Train – das M im Buchtitel steht für mind – deshalb nicht. Stattdessen folgen wir Patti Smith und dem Fluss bzw. dem Zug ihrer Gedanken. Manchmal wird es dabei ganz schön chaotisch, wenn sich Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander vermischen, Geträumtes in Erlebtes übergeht. Aber Erinnern geht nun einmal nicht chronologisch. Illustriert wird der Text von Patti Smiths Fotografien: Frida Kahlos Bett, Tolstois Bär, ein silberfarbener Luftballon an Silvester.
– Ich gehe, sagte mein Gewissen.
– Ich auch, sagte ich und hing hinaus auf die Straße. – S. 101
Obwohl M Train als die Fortsetzung von Just Kids beschrieben wird, schlägt das Buch eine ganze andere Richtung ein als sein Vorgänger: In Just Kids erzählt Patti Smith von ihren Anfangsjahren in New York und von ihrer außergewöhnlichen Freundschaft mit Robert Mapplethorpe. Es ist ein Buch des Aufbruchs, des Aufstrebens zweier kreativer Menschen, die von einem Leben als Künstler*innen träumen. Auf ihrem Weg treffen sie das ganze Arsenal an New Yorker Berühmtheiten der 70er Jahre: Andy Warhol, Janis Joplin, William Borroughs, Allen Ginsberg . . . es ist ein Buch, das mich in seinen Bann geschlagen, mir Inspiration und Mut geschenkt hat. (Meine Rezension dazu findest du hier.) M Train hingegen ist ein Buch des Loslassens: Patti Smith verlor geliebte Menschen, besuchte Gräber berühmter Künstler*innen, vergaß ihren Koffer im Hotelzimmer, ließ ihre Kamera auf einer Bank, Notizbuch und Lieblingsmurakami in einer Flughafentoilette liegen. Doch das ist egal. Denn Patti Smith kehrt immer wieder nach New York zurück. Im Gepäck ihre Erinnerungen. Durchzogen von einer mal zarten, mal erdrückenden Melancholie verbreitet M Train ein tiefgreifendes Gefühl der Ruhe. Der Nachhall von M Train steht im Gegensatz zu der vor Energie sprudelnden Inspiration von Just Kids. Das macht es aber nicht weniger lesenswert!
Patti Smith: M Train. Erinnerungen. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. Kiepenheuer&Witsch 2016. 336 Seiten. 19,99 €.
Rainer Ostendorf
Posted at 16:23h, 14 SeptemberIch mag die Musik von Patti Smith. Vielen Dank für den Buchtipp und schöne Grüsse aus Osnabrück.