Der Preis der (De)Maskierung

2016 schlug die Koreanische Schriftstellerin Han Kang mit ihrem Roman Die Vegetarierin wie eine Bombe in die westliche Literaturlandschaft ein. Jetzt ist ihr Debütroman Deine kalten Hände erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Bildgewaltig widmet sich Han Kang darin den individuellen Folgen von gesellschaftlicher Oberflächlichkeit und der Suche nach dem Wahrhaften.

In Südkorea ist Han Kangs Debütroman Deine kalten Hände bereits 2002 erschienen – fünf Jahre vor ihrem internationalen Bestseller Die Vegetarierin und sogar zwölf Jahre vor dem kürzlich erschienenen Menschenwerk. Die südkoreanische Autorin widmet sich bereits in ihrem Frühwerk den zentralen Themen ihres schriftstellerischen Schaffens: der Selbstaufgabe junger Frauen als Protest gegen eine patriarchalische Gesellschaft, die scheinbare Freiheit und Individualität feiert, aber wahre Abweichung von der Norm ächtet. So legt Han Kang auch in Deine kalten Hände den Fokus auf die Lebens- und Leidensgeschichten von Frauen. Die Rahmenhandlung des Künstlerromans dreht sich um die Schriftstellerin H., die durch zufällige Begebenheiten immer wieder mit den Kunstwerken von Jang Unhyong in Berührung kommt. Sie ist fasziniert von den Arbeiten des Künstlers, in denen er weibliche Körper darstellt und entstellt. Auf einer Theaterpremiere lernt H. den Künstler kennen. Doch kurz darauf verschwindet er spurlos. Zurück bleiben seine Kunstwerke und ein Manuskript. Zufällig gelangt es einige Monate später in die Hände von H. Es beinhaltet die Lebensgeschichte Jang Unhyongs, ausgerichtet an den drei Frauen, die das Leben des Künstlers bestimmten.

„Hör doch auf, solchen Quatsch zu erzählen. Die Welt wird sich auch nach meinem Tod weiterdrehen“, brauste sie auf.
„Genau das meine ich doch. Diese Welt, die sich auch ohne dich weiterdreht, welche Bedeutung hat sie für dich?“ – S. 161

Jang Unhyongs Leben wird von drei Frauen geprägt, die unterschiedlich, aber in ihrem Leiden dann doch gleich sind: Zunächst ist es seine Mutter, die gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem herzlosen Patriarchaten, für ihre Freundlichkeit und Güte bekannt ist, aber hinter deren weißer Maske nur ein aufgesetztes Lächeln und Lieblosigkeit für den Sohn übrigbleiben. Unhyong leidet darunter und wird schließlich zu einem schweigsamen, einzelgängerischen Mann, der sich Menschen nur über seine Kunst annähern kann. Nur zwei Frauen lässt Unhyong in sein Leben hinein. Das ist L., eine junge, stark übergewichtige Studentin, die Unhyongs erste Muse wird, aber an den schönheitsidealistischen Zwängen und der falschen Liebe eines anderen Mannes zerbricht. Und schließlich die Innenarchitektin E., die in ihrer Reinheit, Emotionslosigkeit und Schönheit ein Sinnbild der Perfektion zu sein scheint. Aber hinter deren perfekter Fassade unbekannte Abgründe liegen. Die Protagonistinnen sind schier überladen mit Geheimnissen, die die Seiten des Romans zum Ächzen bringen. Die Geheimnisse wollen erkundet und durchdrungen werden, aber Han Kang gibt nur selten einen kurzen Einblick in die Innenleben der Protagonistinnen. Dieser ist jedoch immer intensiv und leidvoll. Denn die Geheimnisse, die die Protagonistinnen zu wahren versuchen, sind vielleicht nicht außergewöhnlich, aber durchzogen von Missbrauch, Ablehnung und Selbstaufgabe.

Ich war mir schon immer dessen bewusst, dass ich anders als andere begriff und dachte. Was andere für echt hielten, zweifelte ich hartnäckig an, womit sich alle zufriedengaben, reichte mir nicht aus. Dafür entdeckte ich Schönheit, wo sonst niemand welche fand. Auf diese Weise versuchte ich zum Inneren der Dinge vorzudringen, deren Äußeres man sehen, hören, riechen und berühren konnte. – S. 86

Seine Bedeutung erhält der Roman durch die Arbeiten des Künstlers Jang Unhyong. Unhyong nimmt mit Gips Abdrücke von menschlichen Körpern. Zuerst waren es die Hände von L., die den Künstler faszinierten und für Han Kang ein Fenster zur Seele ihrer Protagonistinnen darstellen. Dann sind es aber auch größere Abdrücke, teilweise von ganzen Körpern und Gesichtern, wie das von E. Es sind Totenmasken von Lebenden, deren Haut anfängt schmerzhaft brennen, wenn der Gips trocknet. Unhyong ist fasziniert von Körpern, die nicht perfekt sind: von breiten Schultern, kleinen Brüsten und flachen Hintern, hervorstechenden Rippen und massigen Hautfalten. In der aufgerissenen Körperhülle von L. findet Unhyong einen Rückzugsort, einen Sarg, in dem er begraben werden möchte. Perfektion und oberflächliche Schönheit langweilen ihn. Leidenschaftlich und bildgewaltig beschreibt Han Kang Körper in ihrer Beschaffenheit, ihrer Bedeutung und ihren Empfindungen. Körper werden gleichzeitig zu Ausdrucksmittel und Gefängnis. Ihre Selbstwahrnehmung von der Fremdwahrnehmung dominiert. Han Kang fächert das Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit und Hülle, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Innen und Außen auf. Deine kalten Hände ist heute zwischen Selbstoptimierung, Zurschaustellung und Maskierung aktueller denn je. Und wirft am Ende die Frage auf: Wie hoch ist der Preis der Demaskierung in einer Gesellschaft, die zunehmend von Oberflächlichkeiten dominiert wird?

 

Han Kang: Deine kalten Hände. Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel. Aufbau Verlag, 2019. 312 Seiten. 22 €.

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