
30 Apr Europäische Geschichte aus weiblicher Sicht
Fast zehn Jahre ist es her, dass der erste Band des in Deutschland als Neapolitanische Saga bekannten Romanzykluses L’amica geniale (dt. Meine geniale Freundin) erschienen ist. Die Tetralogie – zu der neben Meine geniale Freundin auch Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes gehören – wird längst als wichtiger Teil des Literaturkanons gehandelt. Dabei gelangte der Hype um die nur unter ihrem Pseudonym bekannte Autorin Elena Ferrante vergleichsweise spät nach Deutschland. Doch nachdem 2016 die deutsche Übersetzung des ersten Bandes erschienen ist, war es auch hier so gut wie unmöglich, sich dem Hype zu entziehen.
Romane zu lesen, die medial so gehyped werden wie die Neapolitanische Reihe, ist eine riskante Angelegenheit. Die Erwartungen sind hoch, die Wahrscheinlichkeit für eine Enttäuschung noch höher. Dabei hat die Geschichte rund um die beiden Freundinnen Elena Greco und Raffaella Cerullo so einiges zu bieten: Die beiden mit nur wenigen Wochen Abstand geborenen Frauen wachsen in den fünfziger Jahren im sogenannten Rione auf – einem ärmlichen Stadtviertel Neapels, das von Gewalt, männlicher Dominanz und mafiösen Strukturen geprägt ist. Raffella, die von Elena nur Lila genannt wird, ist eine intelligente und kreative, aber auch impulsive und unberechenbare Draufgängerin. Elena, die Erzählerin der Geschichte, ist zurückhaltender, vorsichtiger und gewissenhafter als ihre Freundin. Während Lila mit zusammengekniffenen Augen durchs Leben brennt, nach Herausforderungen und Abenteuern sucht, lässt sich Elena vom Wagemut ihrer Freundin mitziehen – wie an dem Tag als sie gemeinsam die Schule schwänzen und zum ersten Mal in ihren jungen Leben versuchen, die Grenzen ihres Stadtviertels zu überschreiten, auf der Suche nach dem Meer.
„Wir gehen zurück“, sagte Lila.
„Und das Meer?“
„Das ist zu weit weg.“
„Und unser Zuhause?“
„Auch.“
„Dann können wir genauso gut ans Meer gehen.“
„Nein!“
„Warum denn nicht?“
– Meine geniale Freundin, S. 91
Meine geniale Freundin beginnt mehr als ein halbes Jahrhundert später mit einem kurzen Prolog: Die Freundinnen sind mittlerweile sechsundsechzig Jahre alt. Elena befindet sich in ihrer Wohnung in Turin, als sie erfährt, dass Lila von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden ist. Ihre Kleidung, ihre Bücher, ihr Computer – alles ist weg, selbst aus den Fotos hat sie sich herausgeschnitten. Elena reagiert gefasst auf die Flucht ihrer Freundin, denn: Schon vor dreißig Jahren hatte Lila den Wunsch geäußert, sich in Luft aufzulösen. Nicht nur Neapel, in dem sie bis ins Alter lebte, zu verlassen, sondern spurlos aus der Welt zu verschwinden. Anstatt sich Sorgen zu machen, wird Elena wütend auf ihre Freundin, die immer zu weit gehen muss. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch und beginnt „unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist“.
Elena Ferrante entfaltet vor der Kulisse Neapels eine personen- und facettenreiche Welt, in der sie rund sechs Jahrzehnte italienische Nachkriegszeit aus weiblicher Perspektive erzählt. Es ist eine spannende Zeit voller politischer und sozialer Umwälzungen, die zwar nicht explizit kommentiert werden, aber im Hintergrund der Lebensgeschichten der Frauen konstant durchklingen. So erleben sie das Erstarken feministischer und kommunistischer Strömungen, die 1968er-Demonstrationen, Fehden und Morde der Camorra, gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Faschisten und Kommunisten. Junge Menschen aus ihrem Umfeld schließen sich den kriminellen Familienclans der Camorra an oder werden Teil des militanten Kommunismus. Gemeinsam, aber auch in Konkurrenz zueinander, versuchen Elena und Lila in dieser männerdominierten Welt ihre Stimme zu finden. Lila, indem sie bereits in der Grundschule ihre erste Kurzgeschichte verfasst und später ganze Notizbücher füllt; Elena, indem sie Zeitungsartikel und irgendwann ihren ersten Roman schreibt. Sie träumen davon, der Enge des Rione zu entfliehen, merken aber bald, dass, egal wie weit sie gehen, ihre Herkunft immer ein Teil von ihnen sein wird.
Lange ging ich durch die verlassenen Straßen, die nun viel sicherer waren, als wenn sich dort Menschen drängten. Der Himmel wurde violett. Ich kam ans Meer, eine eher graue Fläche unter einem blassen Himmel mit seinen spärlichen, rosa umrandeten Wolken. Das wuchtige Castel dell’Ovo war vom Licht scharf zweigeteilt, die dem Vesuv zugewandte Seite in strahlendem Ockergelb, die Seite in Richtung Mergellina und Posillipo ein brauner Fleck. Die Straße an den Klippen war leer, das Meer rauschte nicht, verströmte aber einen intensiven Geruch. Wer weiß, welche Gefühle ich für Neapel, für mich gehegt hätte, wenn ich jeden Morgen nicht im Rione, sondern in einem der Palazzi an der Uferstraße aufgewachsen wäre.
– Die Geschichte der getrennten Wege, S. 285
Elena Ferrante lässt auf mehr als 2000 Seiten mit einer einfachen, manchmal wenig kunstvollen Sprache tief in das Innenleben der Erzählerin Elena blicken. Elenas Ziele und Wünsche, Ängste und Zweifel dominieren die Geschichte, aber immer im Vergleich, immer in Abgrenzung zu Lila. Elena vergleicht sich häufig mit ihrer Freundin, findet sie intelligenter, attraktiver, perfekter, doch mit dem Alter lernt sie auch zunehmend Lilas Schwächen zu sehen. Die Dynamik dieser Freundschaft, die enge Verbundenheit zwischen den beiden Frauen, die nach jeder Entfremdung wieder eine Zeit der Annäherung bringt, wird zum Kernstück der Tetralogie. Dabei vernachlässigt Elena Ferrante leider zunehmend die vielen spannenderen Facetten ihrer Geschichte: Sowohl Elena als auch Lila sind komplexe, interessante und in ihrer jeweiligen Art starke weibliche Charaktere, die in der Literatur noch immer viel zu selten zu finden sind. Sie beide verfolgen ehrgeizige Ziele in einer Welt, in der für ehrgeizige Frauen kein Platz vorgesehen ist, und scheitern beide am Ende auf ihre Art. Dabei werden Fragen der Identität und Zugehörigkeit, die Ambivalenz der Mutterschaft und die Stellung der Frau im späten 20. Jahrhundert aufgeworfen – aber nicht mit der Intensität behandelt, die sie verdienen.
Also: Wird die Neapolitanische Saga ihrem Hype gerecht? Vielleicht nicht ganz. Doch auch wenn der vierbändige Roman mit zunehmender Seitenzahl an Prägnanz und Intensität verliert, bestückt ihn Elena Ferrante doch mit einer einnehmenden Geschichte von Freundschaft und Emanzipation – und eben auch mit einem Stück europäischer Geschichte, das umfassend aus der Sicht einer Frau beschrieben wird und damit die Neapolitanische Reihe mehr als lesenswert macht.
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp 2016. 422 Seiten. 22 €. Elena Ferrante: Die Geschichte eines neuen Namens. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp 2017. 623 Seiten. 25 €. Elena Ferrante: Die Geschichte der getrennten Wege. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp 2017. 540 Seiten. 24 €. Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp 2018. 614 Seiten. 25 €.
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