
25 Jul Hände zu Wurzeln, Beine zu Kronen
Han Kangs Roman Die Vegetarierin gilt 2016 als die literarische Entdeckung des Jahres. Der bedrückende Roman ist die Geschichte einer Selbstbefreiung durch totale Lebensverweigerung. Beeindruckend!
Was muss passieren, damit ein vollkommen mittelmäßiger Mensch, der nichts Außergewöhnliches an sich hat, von einem Tag auf den anderen aus allen Maschen des gesellschaftlichen Netzes fällt? Dieser Frage geht Han Kang in ihrem Roman Die Vegetarierin nach: Ihre Protagonistin Yong-Hye ist eine vollkommen durchschnittliche Frau – zumindest, wenn man deren Ehemann im ersten Teil des Romans Glauben schenkt: Mit ihrem Topfschnitt und der farblosen Kleidung mangelt es ihr an Ausstrahlung und Charme. Sie hat keine außergewöhnlichen Hobbys, wenn man das gelegentliche Lesen von Büchern außer Acht lässt, und verbringt die meiste Zeit schweigend. Tatsächlich kommt Yong-Hye im gesamten Roman, der in drei Teilen von deren Ehemann, Schwager und Schwester erzählt wird, nur wenige Male zu Wort. Jeden Morgen steht sie um sechs Uhr auf, macht ihrem Ehemann Frühstück aus Reis, Suppe und Fisch. Die restliche Zeit arbeitet sie als Hilfslehrerin oder zieht sich in ihr Zimmer zurück. Nur zu den Mahlzeiten öffnet sie die Tür und bereitet wortlos das Essen zu. Yong-Hye ist eine Frau, „die an Durchschnittlichkeit kaum zu überbieten“ ist (S. 8) – solange bis sie aufgrund eines Traumes beschließt Vegetarierin zu werden. Dann gerät die für einen Moment so durchschnittlich anmutende Geschichte gemeinsam mit der Protagonisten aus der Bahn: Warum will Yong-Hye kein Fleisch mehr essen? Was soll dieser merkwürdige Traum? Und wieso ist ihr Lebenswandel für alle so ein enormes Problem?
Wie lebendig mir dieses Gefühl vorkam, rohes Fleisch zwischen den Zähnen zu haben und zu kauen. Mein Gesicht, das Leuchten in meinen Augen. Ein Gesicht, wie ich es zuvor noch nie gesehen hatte, und zugleich aber meines, ohne Zweifel. Nein, im Gegenteil: Eine Fratze, wie ich sie schon unzählige Male gesehen habe, die mir aber gänzlich unähnlich ist. Ich kann es dir nicht erklären. Diese lebhafte Erinnerung ist bizarr, furchtbar bizarr, gleichzeitig vertraut und doch neu – S. 16
Die Reaktionen von Yong-Hyes Umfeld sind brutal. Sie wird von ihrem Vater geschlagen, von ihrem Ehemann sexuell missbraucht, von ihrem Schwager ausgenutzt und ihrer Schwester verurteilt. Doch Yong-Hye flüchtet mit einer wilden und brutalen Entschlossenheit aus dieser Welt. Sie ernährt sich pflanzlich und sehnt sich schließlich danach, selbst zu einer Pflanze zu werden, mit ihren Händen in den Boden zu wachsen und aus ihrem Schoß Blumen sprießen zu lassen. Sie trinkt nur noch Wasser und nimmt mit der nackten Brust die Sonnenstrahlen auf. In ihrer spärlich eingerichteten, sonnendurchfluteten Wohnung lebt sie schließlich gänzlich unbekleidet das Leben, das sie sich wünscht. Durch Blumenmalereien ihres Schwagers gelingt es ihr, ihre Transformation in eine Pflanze zu beginnen. Doch dieser Weg, den Yong-Hye wählt, führt in der südkoreanischen Gesellschaft nur zu einem Ziel: Ans Bett gefesselt in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik.
Yong-Hye drehte sich zu ihr um und schaute sie an wie eine Fremde. Ihre letzten Worte waren: ‚Ja und? Ist es denn verboten zu sterben?‘ – S. 163
Für ihren Ehemann ist ihr Verhalten und die Vernachlässigung ihrer Aufgaben als Hausfrau ein einziger Akt der Rücksichtslosigkeit. Ihr Vater liest darin wohl eher einen Akt der Rebellion, ihre Mutter einen Ausbruch des Wahnsinns. Ihr Schwager hofft hingegen nur auf Sex mit großen Blütenstempeln und grüner Pflanzenflüssigkeit – keine weiteren Fragen. Lediglich ihre Schwester versucht im dritten Teil händeringend, die Beweggründe Yong-Hyes zu verstehen. Sie denkt an ihre Kindheit, an die Autorität des Vaters, an ihren (wenn wir schon mit Mittelmäßigkeiten arbeiten: zugegebenermaßen unterdurchschnittlichen) Ehemann. Auch wenn die Kunstfertigkeit Han Kangs mit zunehmender Seitenzahl abzunehmen scheint – die Schwester wirkt im dritten Teil dann doch recht dröge – , entfaltet der Roman ein erdrückendes und düsteres Bild einer patriarchalischen Gesellschaft, aus deren Unterdrückung sich Yong-Hye durch die absolute Verweigerung des menschlichen Lebens befreien will.
Han Kang: Die Vegetarierin. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Aufbau Verlag 2016. 190 Seiten. 18,95 €.
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