
24 Mrz I may dream things cause your heart to weep
An der Oberfläche handelt White Tears von der Freundschaft zwischen Seth und Carter, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Carter mit seinen blonden Dreadlocks, aufwändigen Tattoos und einem enormen Treuhandvermögen einfach nur cool ist, ist Seth, der Ich-Erzähler des Romans, wohl eher das, was wir einen Loser nennen, der Schwierigkeiten hat, seinen Lebensunterhalt zu begleichen und am liebsten allein mit seinem Aufnahmegerät in der Gegend herumstreift. Doch sie beide sind Einzelgänger, leben in ihrer eigenen Welt und das schafft eine einzigartige Verbindung zwischen ihnen. Ihre Liebe zu authentischer Musik im Gegensatz zur digitalen Gegenwart macht sie zu erfolgreichen Musikproduzenten in New York, bis sich diese Liebe zur Obsession wandelt und ungeahnte Folgen hat. Das Tonstudio, das der Familie Carters gehört, ist das Spiegelbild dieser Leidenschaft und mit einer erstklassigen Musikanlage, Schallplattenspielern mit Röhrenverstärkern und ausschließlich Vinyl ausgestattet.
Carter sucht in seinem Leben nach Bedeutung und einem Gefühl der Tiefe. Wie wir alle lebt er in einer Welt der leicht verfügbaren kulturellen Zeichen und Symbole. Es ist sehr einfach von einer Sache zur nächsten und von dort zur nächsten und übernächsten zu springen. Er hat Geld, er verfügt über die nötigen Zugänge, mehr als andere. Er kann alles haben, aber nichts fühlt sich echt an, deshalb sehnt er sich nach etwas Wahrhaftigem.
Auf einem seiner Streifzüge durch die vollen Straßen New Yorks nimmt Seth unbemerkt einen Mann auf, der einen alten Blues-Song singt. Begeistert von dieser Aufnahme und der Tiefgründigkeit des Textes, stürzt sich Carter in die Welt des Blues. Seine Sammelleidenschaft für alte Platten aus den 20er und 30er Jahren – Platten, deren Sänger*innen niemandem mehr bekannt sind, mit verschrammten Melodien, kaum mehr hörbar – wird zur Besessenheit. Er ist auf der Suche nach dem Wahrhaftigen. Nach der Quelle jener Musik, deren Intensität in der digitalen Gegenwart nicht zu finden ist. Schließlich nimmt Seth auf den Straßen New Yorks eine Gitarrenmelodie auf, die perfekt zu dem Text zu passen scheint. Seth hat kein weiteres Interesse an diesen Aufnahmen, doch Carter kreiert aus diesen einen Song, der verbunden mit hinzugemischtem Kratzen wie eine Aufnahme aus längst vergangenen Zeiten klingt. Er erfindet den Künstler Charlie Shaw und stellt das Lied ins Internet – nichtsahnend dass Charlie Shaw und dieses Lied tatsächlich existiert haben.
An diesem Punkt beginnt die Geschichte aus dem Ruder zu laufen. Carter wird zusammengeschlagen und liegt im Koma, Seth macht sich auf die Suche nach Charlie Shaw und wird dabei von der Vergangenheit eingeholt. Das, was zu Beginn des Textes angedeutet wird, wenn Seth davon spricht, den Bezug zur Zukunft zu verlieren, verstärkt sich zunehmend. Vergangenheit und Gegenwart beginnen zu mäandrieren und verflechten sich unentwirrbar miteinander. Nur durch kleine Hinweise des Autors erkennt der*die Leser*in in welchem Jahrzehnt sich die Geschichte schließlich befindet.
meine Gegenwart war mir irgendwie voraus und gleichzeitig unwiederbringlich in der Vergangenheit. Alles, was ich hörte, klang verstärkt und dadurch klarer definiert, gleichzeitig war es aber nur ein Echo, nicht wirklich vorhanden, so fern und fremd wie ein Funksignal aus einem längst vergangenen Krieg. Jeder einzelne Moment war schon durchlebt. Ich konnte nichts mehr in einen Zusammenhang bringen. Etwas passierte und war gleichzeitig schon passiert. Die Spirale, die sich von der Geburt bis zum Tod erstreckt, der Wahrnehmungsstrang aus Gewohnheit und Fortschritt, der aus einem Menschen erst einen Menschen macht, ein eigenständiges Ganzes, war durchbrochen und ohne Substanz wie eine Kette von Rauchringen.
Das noch stehende World Trade Center, die Black Spades in der Bronx, die U-Bahn auf dem Hochgleis oder die getrennten Sitzplätze für Weiße und Schwarze sind Anhaltspunkte für den jeweiligen Zeitpunkt in der Geschichte der USA. Bis Seth nicht nur die Jahrzehnte, sondern auch seine Identität und Hautfarbe wechselt. Umso weiter die Hanldung des Romans fortschreitet, desto stärker verweben sich die Ebenen miteinander und desto politischer wird die Erzählung. Zwar scheint es oberflächlich gesehen zu Beginn um die ungleiche Freundschaft zwischen Seth und Carter zu gehen, eigentlich aber verarbeitet Hari Kunzru in diesem Roman auf meisterhafte Weise die Sklaverei und den Rassismus in der Geschichte der USA und die Unterdrückung, die mit kultureller Aneignung einhergeht. Die Schlagkraft des Romans lässt bereits der nicht übersetzte Titel White Tears erahnen. Diese Wendung beschreibt, „what happens when certain types of White people either complain about a nonexistent racial injustice or are upset by a non-White person’s success at the expense of a White person“ [1]. Dazu möchte ich dir diesen Artikel und dieses Interview mit Hari Kunzru ans Herz legen.
White Tears von Hari Kunzru ist eines der beeindruckendsten Bücher, die ich je gelesen habe. Der Roman entwickelt durch seine Vielschichtigkeit, durch das Spiel mit der Zeit und der Identität des Protagonisten eine unglaubliche Sogwirkung, die es mir fast unmöglich gemacht hat, das Buch aus den Händen zu legen. Durch ein einziges Lied verbindet der Autor die Sklaverei der Vergangenheit mit der kulturellen Aneignung der Gegenwart und wirft seine Leser*innen in eine Zeitreise voller Gesellschaftskritik:
Believe I buy a graveyard of my own
Believe I buy me a graveyard of my own
Put my enemies all down in the groundPut me under a man they call Captain Jack
Put me under a man they call Captain Jack
Wrote his name all down my backWent to the Captain with my hat in my hand
Went to the Captain with my hat in my hand
Said Captain have mercy on a long time manWell he look at me and he spit on the ground
He look at me and he spit on the ground
Says I’ll have mercy when I drive you downDon’t get mad at me woman if I kicks in my sleep
Don’t get mad at me woman if I kicks in my sleep
I may dream things cause your heart to weep
Hari Kunzru: White Tears. Aus dem Amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Liebeskind 2017. 352 Seiten. 22 €.
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