
27 Mrz Ist das jetzt ein echter Kerl?
In Das Ende von Eddy verarbeitet der Schriftsteller Édouard Louis seine Kindheit in einem ärmlichen Dorf Nordfrankreichs. Zu lesen, was dem Jungen dort aufgrund von Armut und Homophobie widerfahren ist, ist schrecklich, aber wichtig. Denn Édouard Louis sensibilisiert seine Leser*innen nicht nur gegenüber Mobbing und Armut, sondern gibt damit auch einem der vielen Teile der Gesellschaft ein Stimme und ein Gesicht, die sonst immer übersehen und überhört werden.
Der Schriftsteller Édouard Louis scheint sich in Das Ende von Eddy von seiner Kindheit in der französischen Provinz losreißen zu wollen. Es ist eine Kindheit, die alles andere als behütet war: Eddy Bellegueule, wie Édouard Louis eigentlich heißt, wächst in den 90er Jahren in einem kleinen Dorf in Nordfrankreich auf. Dort, inmitten einer homophoben Familie und Nachbarschaft, stößt der schwule Junge schon früh auf Ablehnung und Hass. Denn die Dorfbewohner sind sich einig, was einen richtigen Mann ausmacht: Es ist der Idealtyp toxischer Männlichkeit. Die Männer des Dorfes gehen früh von der Schule ab und arbeiten in der örtlichen Fabrik, die Messingteile herstellt. Sie trinken kaum messbare Mengen an Alkohol, fahren betrunken Auto, baggern Frauen an, die nicht immer ihre Ehefrauen sind. Die Frauen hingegen ordnen sich widerstandslos der männlichen Dominanz unter. Sie sind Hausfrauen und arbeiten als Kassiererinnen, Altenpflegerinnen oder Friseurinnen. Sie bekommen möglichst viele Kinder, damit sie nicht als lesbisch oder als frigide gelten. In diesen festgefahren Geschlechterrollen ist wenig Platz für Andersartigkeit – und anscheinend kein Platz für Eddy.
Er fragte meine Mutter, ob ich ein Junge sei ‚Ist das jetzt ein Kerl, ja oder Scheiße? Flennt die ganze Zeit hier rum, hat Angst im Dunkeln, das soll ein Kerl sein? Warum? Warum ist der so? Warum? Ich habe ihn nicht erzogen wie ein Mädchen, ich habe ihn genauso behandelt wie die anderen Jungs. Verfluchte Scheiße.‘ Seiner Stimme war Verzweiflung anzuhören. In Wirklichkeit – er wusste das nicht – stellte ich mir dieselben Fragen. – S. 76
Eddys Familie passt sich perfekt in diese Geschlechterrollen ein. Nur Eddy gehört nicht dazu, egal wie sehr er sich anstrengt: Seine Stimme ist femininer als die der anderen Jungen, seine Arme schlackern beim Sprechen unkontrollierbar in der Luft und er trägt heimlich die Kleidung seiner Schwester. Statt sich zu prügeln, erträgt er die Mobbing- und Prügelattacken seiner Mitschüler. Seine zwei größten Mobber, der Große mit den roten Haaren und der Kleine mit dem krummen Rücken, treten ihn regelmäßig in den Bauch, bespucken und zwingen ihn, die stinkende Rotze aufzulecken. Die Reaktionen seines Umfeld lassen einen atemlos zurück: Nicht nur seine Mitschüler schikanieren den Jungen, sondern auch seine Familie. Seine Eltern ermahnen ihn, sein „tuntiges Gefuchtel“ zu lassen, sein älterer Halbbruder will ihn im Vollrausch totprügeln. Doch anstatt sich zu wehren, erträgt Eddy diese Brutalität stoisch. Er möchte nicht das Opfer sein, nicht „die Schwuchtel“, die auch noch verprügelt wird. Dann hätte er in zweierlei Hinsicht verloren. Stattdessen quält er sich, ein echter Kerl zu werden. Es gelingt ihm nicht – und irgendwann kommt die Hoffnung, aus der Enge des Dorflebens ausbrechen zu können.
Ich durfte mich nicht mehr so verhalten wie bisher. Ich musste meine Gestik beim Sprechen unter Kontrolle bekommen, musste lernen, mit tieferer Stimme zu reden, und ausschließlich männertypischen Freizeitbeschäftigungen nachzugehen. Mehr Fußball spielen, keine Schlagersendungen mehr sehen, andere Schallplatten hören. Allmorgendlich im Badezimmer wiederholte ich für mich dieselbe Formel, ununterbrochen, so oft, dass sie schon ihren Sinn verlor, zu einer reinen Abfolge von Lauten und Silben wurde. Ich sagte sie auf und begann sofort von neuem ‚Heute bin ich ein echter Kerl‘. – S. 156f.
Das Ende von Eddy zu lesen, ist grausam, denn Édouard Louis schildert seine Kindheit mit einer wahnsinnigen sprachlichen und emotionalen Distanz. Es wirkt beinahe so, als wäre er betäubt und hätte all das nicht selbst erlebt, sondern nur als Außenstehender dabei zugesehen. Zu lesen, was Eddy durchmachen musste – die Schimpfwörter und Demütigungen und Gewalt -, tat mir weh. Ganz besonders weil das keine Fiktion ist, sondern Realität war. Auf jeder Seite habe ich mir für den kleinen Eddy eine bessere und liebevollere Zukunft gewünscht. Paradoxerweise wünscht sich auch Eddys Vater für seinen Sohn den sozialen Aufstieg in ein besseres Leben. Obwohl er selbst nur abfällig von „den Bürgern“ spricht, also den Menschen, die ein geregeltes Einkommen haben. Eddys Vater, der irgendwann durch einen Unfall arbeitsunfähig wird, spricht aber nicht nur über sie abfällig, sondern auch über die „Schwuchteln“, die „Tunten“, die „Araber“ und die „Bullen“. Dadurch gewinnt der Roman eine Kraft, die eine reine Autobiographie nicht haben würde. Denn anstatt nur über die Menschen in seiner Kindheit zu schreiben, gibt Édouard Louis einem der Gesellschaftsteile eine Stimme, die sonst von niemandem gesehen oder gehört werden. Es ist keine Stimme, die mir gefällt. Aber eine, die da ist und die in ihrer ausweglosen Armut eine Sackgasse voller Homophobie und Fremdenfeindlichkeit gefunden zu haben scheint.
Édouard Louis: Das Ende von Eddy. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. FISCHER Taschenbuch, 2015. 208 Seiten. 11€.
1 Comment