
27 Feb Meine Mutter eine Naturgewalt
Zwischen Exzessen, Schlägen und wahnsinniger Liebe: in Die Entflohene erzählt die französische Schriftstellerin Violaine Huisman aus dem Leben ihrer Mutter. Sie schafft damit nicht nur ein eindringliches Porträt einer außergewöhnlichen Frau, sondern beleuchtet darüber hinaus die Frage, was es bedeutet, manisch-depressiv und Mutter zu sein.
Der autofiktionale Roman beginnt mit dem Tag des Mauerfalls. Die zehnjährige Violaine ist von den französischen Abendnachrichten in den Bann gezogen. Obwohl sie weder die politischen Hintergründe kennt, noch deren Tragweite ermessen kann, betrachtet sie ergriffen die Bilder der jubelnden Menschen vor den Steinhaufen und Staubwolken der Berliner Mauer. Denn in diesen Trümmern glaubt sie die Spuren ihrer Mutter zu erkennen: ihren Körper, ihr Gesicht und „vielleicht ihre Asche“. Am Tag zuvor war ihre Mutter plötzlich verschwunden. Sie wurde aufgrund ihrer schweren Depressionen für mehrere Monate zwangseingewiesen. Violaine und ihre Schwester Elsa verstehen aber weder die plötzliche Abwesenheit ihrer Mutter noch die Erklärungen der Erwachsenen: Ihre Mutter sei manisch-depressiv, sagen sie. Violaine und Elsa kommen zunächst zu ihren Großeltern, dann zu ihrem Vater. Doch ohne ihre Mutter fühlen sie sich verlassen und allein.
Catherine ist die Heldin ihrer Töchter. Sie ist schön und mutig und exzentrisch. Sie fährt Auto wie eine Rennfahrerin, rast bei Rot über Kreuzungen, brettert die Avenue des Champs-Élysées hinunter, wechselt von der Straße auf den Bürgersteig, wenn es ihr nicht schnell genug geht. Sie kauft Designerkleidung und Haustiere und Häuser, stiehlt Rezeptblöcke, nimmt Beruhigungs-, Schlaf-, Schmerz- und Aufputschmittel. Sie trinkt exzessiv Alkohol und raucht non-stop. Manchmal liegt sie deshalb bewusstlos in der Wohnung. Die Töchter haben daher früh gelernt, ihre Maman zu reanimieren. Nur wenn es ihnen nicht gelingt, sie mit Essig oder Ohrfeigen oder nassen Waschlappen aus der Bewusstlosigkeit zu holen, rufen sie den Notruf und überzeugen die Feuerwehrmänner, ihre Maman nicht mit ins Krankenhaus zu nehmen.
Doch das Hochgefühl sollte nicht andauern. Eine Eigenschaft von Ekstase ist, dass sie in aller Flüchtigkeit auflodert, auf dem Höhepunkt des Gefühlsausbruchs und der Begeisterung, auf dem Gipfel einer Laune, im permanenten Schweben nicht von Dauer sein kann, irgendwann muss sie schließlich abklingen, und im Leben gibt es Höhen und Tiefen – man kann sich nicht die ganze Zeit auf dem Zenit des Orgasmus festklammern. – S. 67
Das Erstaunliche an Die Entflohene ist die respektvolle und zärtliche Annäherung der Autorin an das Leben ihrer Mutter. Violaine Huisman verbindet Wahres und Fiktionales miteinander und stellt dabei nicht die Konsequenzen, die eine Kindheit mit einer manisch-depressiven Mutter hat, in den Vordergrund, sondern das Leben einer psychisch kranken Frau. Im ersten und stärksten Teil des Romans erzählt die Ich-Erzählerin aus ihrer Kindheit. Trotz der manchmal unbeholfen-kindlich wirkenden Sprache geben die kurzen Szenen bruchstückhaft einen prägnanten und tiefen Einblick in das Leben der Familie. Sie sind trotz all der Grausamkeit, die die Ich-Erzählerin erleben musste, nicht von Verbitterung geprägt, sondern nachsichtig und mitunter auch humorvoll. Denn wenn Catherine wütend wurde, dann war sie unberechenbar und zerstörerisch. Dann beschimpfte sie ihre Kinder als „kleine dumme Rotznasen“, brüllte sie an, sie mit ihrem Scheiß und den Problemchen verhätschelter Gören in Ruhe zu lassen. Natürlich schlug sie dabei auch mal zu. Doch es gab eben auch die andere Seite. Dann war Catherine eine liebevolle Mutter, die ihre Kinder mit Zuneigung überschüttete und mit Küssen übersäte. Nicht Zurückhaltung sondern Verehrung ist die Kehrseite ihrer Tobsuchtsanfälle. Catherine ist eine janusköpfige Frau, eine moderne Medea, die ihre Kinder nicht tötet, aber sie allmählich zugrunde richtet, so wie sie von ihrer eigenen Mutter zugrunde gerichtet wurde.
Sie konnte ihrer schrecklichen, ihrer unüberwindbaren Geschichte nicht entkommen, der wahren wie der falschen, oder jener, die sie sich angeeignet hatte. Die sie zu leben gewählt hatte, in der Nähe dieser erbarmungslosen Vergangenheit, genau nebenan, was ihr wieder und wieder, in Worten, Zeichen und Bildern vor Augen führte, wie viel es sie kostete, zur Wurzel zurückzukehren, sich wieder an den Ursprung dieses Desaster zu erinnern, das ihr Leben war. – S. 75
Im zweiten Teil widmet sich die Autorin der Lebensgeschichte der Catherine zu, die in ihrer Kindheit selbst vernachlässigt wurde und schließlich als Erwachsene versucht, ihrer Vergangenheit zu entfliehen. Sie sucht vergeblich nach Stabilität, um ihr Leben und das Leben ihrer Kinder besser zu gestalten. Die lückenhaften Erinnerungen der Erzählerin werden damit fundiert und die Exzentrik der Mutter für die Leser*innen verständlich und damit auch zu einem gewissen Grad verzeihlich gemacht. Im dritten Teil sind Violaine und Elsa schließlich erwachsene Frauen und auch wenn Violaine nun mit dem Abstand der Jahre einen nuancierteren Blick auf ihre Mutter hat, sie ihre Stärken und Schwächen kennt, ist ihre Mutter noch immer ihre Heldin. Violaine Huisman verbindet damit in Die Entflohene eindrucksvoll Zärtliches und Grausames miteinander. Sie schafft das Porträt einer Frau, der es nicht gelingt, ihrer psychischen Erkrankung zu entkommen und vergeblich versucht, ihr Bestes zu geben, ohne dass es je genug ist. Die Entflohene ist damit nicht nur ein Roman über eine unkonventionelle Mutter-Tochter-Beziehung, sondern auch ein Roman darüber, was es bedeutet mit einer psychischen Erkrankung Frau und Mutter zu sein.
Violaine Huisman: Die Entflohene. Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. S. FISCHER 2019. 256 Seiten. 22 €.
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