
16 Okt Rückkehr nach Gilead
Drei Frauen, drei unterschiedliche Geschichten, aber doch alle verbunden durch Gilead: Nach 34 Jahren bekommt die weltberühmte Dystopie Der Report der Magd endlich eine Nachfolgerin. Die Autorin Margaret Atwood greift darin recht plakativ, aber sehr wirksam aktuelle gesellschaftliche Debatten auf.
„Ich habe mich in die Hände von Fremden gegeben, denn es bleibt mir nichts anderes übrig. Und so steige ich hinauf, in die Dunkelheit dort drinnen oder ins Licht“. So endet der mittlerweile wohl bekannteste Roman der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood. Die bereits 1985 erschienene Dystopie Der Report der Magd erzählt aus dem Leben der Magd Desfred, die in dem fiktiven Zukunftsstaat Gilead lebt. Gilead ist der Name eines theokratischen Regimes, das auf dem ehemaligen Staatsgebiet der Vereinigten Staaten etabliert wurde, um die Reproduktion der Menschheit sicherzustellen und die Unfruchtbarkeit der Frauen als vermeintliche Strafe Gottes für Promiskuität und Abtreibungen abzuwenden. Seitdem beschränkt eine strikte Klassengesellschaft die Rechte und Freiheiten der Frauen, die in vier soziale Klassen eingeteilt sind. Eine davon sind die Mägde, zu denen auch Desfred gehört, deren Aufgabe es ist, den einflussreichen Kommandanten und ihren Ehefrauen Kinder zu gebären. Die Befruchtung erfolgt dabei in einer abstoßenden Zeremonie, in der der Kommandant seine Magd im Beisein seiner Ehefrau vergewaltigt.
Über Frauenkörper und -leben entscheiden in Gilead ausschließlich Männer. Bei ihnen liegt die Entscheidung, wer Mutter wird und wer nicht, wer leben darf und wer nicht. Deshalb ist es kein Wunder, dass Der Report der Magd nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten – einem Mann, der sich öffentlich mit dem Begrabschen von Frauen brüstet – nach 34 Jahren eine breite und begeisterte Leser*innenschaft erhalten hat. Gesteigert wurde die Bekanntheit zudem durch die auf dem Roman basierende Serie The Handmaid’s Tale, die seit 2017 mit Elisabeth Moss in der Rolle der Desfred ausgestrahlt wird. Wahrscheinlich ist es auch diesem Erfolg zu verdanken, dass Margaret Atwood mit Die Zeuginnen in diesem Jahr die Fortsetzung ihres Erfolgsromans veröffentlichte. Die Zeuginnen setzt jedoch nicht lückenlos an seinen Vorgänger an. Stattdessen lässt Margaret Atwood drei Frauen erzählen, deren Leben durch Desfred und Gilead miteinander verbunden sind.
Ich stimme euch zu, dass Gilead in Vergessenheit geraten sollte – zu viel davon war verkehrt, zu viel heuchlerisch, und es gab zu viel, das sicherlich unvereinbar mit dem Willen Gottes ist – aber ein wenig Raum müsst ihr mir gönnen, um das Gute zu betrauern, das uns verloren gehen wird.
Eine dieser Frauen ist Tante Lydia, die bereits im ersten Roman auftaucht und zur Gründungsgeneration Gileads gehört. Nach ihrer Indoktrination hat sie das Haus Ardua mitgegründet, in dem junge Tanten ausbildet werden. Trotz ihrer Arbeit für den Staat lehnt Tante Lydia die vielen Fälle der Korruption und des Machtmissbrauchs von der Gilead-Elite ab. Minutiös hält sie in einem geheimen Manuskript eine Fülle an belastenden Informationen über die einflussreichen Männer des Staates fest. Diese wechselt Margaret Atwood mit den Perspektiven zweier junger Mädchen ab, deren Erlebnisse nicht unterschiedlicher sein könnten. Da ist zum einen Desfreds Tochter Agnes Jemima, die ihrer Mutter auf der gescheiterten Flucht aus Gilead weggenommen und einem Kommandantenehepaar als Tochter überlassen wurde. Agnes wird gemeinsam mit anderen jungen Mädchen in der Schule dazu ausgebildet, Ehefrau zu werden, doch als sie mit einem deutlich älteren Kommandanten verheiratet werden soll, sucht sie verzweifelt nach einem Ausweg. Und dann ist da die in Kanada lebende, nur wenige Jahre jüngere Daisy. Daisy kennt Gilead nur aus dem Schulunterricht und fragt sich entsetzt:
Was waren das nur für Menschen, die Gilead in Schutz nahmen? Vor allem die weiblichen darunter?
Darauf gibt Margaret Atwood in Die Zeuginnen eine klare Antwort, indem sie mithilfe von Tante Lydia und einer Reihe an Nebencharakteren zeigt, dass patriarchalische und misogyne Gesellschaften nicht allein von Männern, sondern eben auch von Frauen aufrechterhalten werden. Die frauenverachtende Zukunft, die Margaret Atwood in Gilead entwirft, mag auf den ersten Blick unwahrscheinlich wirken. Die Autorin betont aber selbst, dass sie für ihren ersten Roman, in dem sie den Staat entwirft, eine zentrale Regel hatte: nichts zu schreiben, das es in der Realität nicht schon gegeben hat. Auch die Darstellerin der Magd Desfred, Elisabeth Moss, sagt in einem Interview: „Throughout production, we occasionally will send articles to each other from that day’s paper that exactly mirror what’s happening in the show—whether it is reproductive rights, whether it’s an environment issue, some new random crazy strain of virus. We are fascinated and horrified by the parallels.“
Diese Parallelen greift Margaret Atwood in Die Zeuginnen nun recht plakativ, aber durchaus wirksam auf. Nach und nach führt die mittlerweile 80-jährige Autorin die Handlungsstränge rund um die drei Frauen zusammen bis ihre Leben miteinander verbunden sind und zahlreiche Informationen über Gilead und die Untergrundorganisation Mayday zutage treten. Der Roman ist deshalb ein wahrer Pageturner, der – wohl zum Glück aller Gilead-Fans – so einige offene Fragen aus dem ersten Roman beantwortet. Dennoch erzeugt er durch seinen rasanteren, dynamischeren Aufbau der Geschichte nicht die gleiche düster-beklemmende Stimmung wie sein langsamer und intensiver erzählter Vorgänger. In Der Report der Magd erzählt Margaret Atwood ausschließlich aus der Sicht der Magd Desfred, sodass einige Lücken entstehen, die zur Spannung der Geschichte beitragen. In Die Zeuginnen gibt es nun die allwissende Tante Lydia, die zwar so einige Machenschaften der Gilead-Elite offenbart, aber gleichzeitig den Interpretationsspielraum weitgehend einschränkt. Das wird durch die simple Sprache des Romans in der Übersetzung von Monika Baark unterstrichen, die klarer, aber eben auch langweiliger als beim Vorgänger ist – vielleicht sollen damit auch diejenigen abgeholt werden, die Der Report der Magd nur aus dem Fernsehen kennen. Das geht aber vor allem Zulasten der jüngeren Protagonistinnen Agnes und Daisy, deren Dialoge steif und gewollt auf jugendlich gemacht wirken. Doch auch wenn Die Zeuginnen nicht an Der Report der Magd heranreichen kann: Spannend zu lesen ist der Roman mit seinen ausschließlich weiblichen Hauptfiguren allemal und so ein bisschen befriedigend ist es dann eben doch, die ein oder andere Frage aus dem Vorgänger nun endlich beantwortet zu wissen.
Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Aus dem Englischen von Monika Baark. Berlin Verlag 2019. 575 Seiten. 24 €.
Ronja
Posted at 11:48h, 17 OktoberAhoi Cora,
danke für deine schöne Rezension, durch die ich gleich noch mehr Lust habe, die Fortsetzung zu lesen; zumal mir der Report der Magd, den ich erst kürzlich gelesen habe, wirklich gut gefallen hat ^^
Liebe Grüße
Ronja von oceanloveR