
26 Okt Und dann ist da dein Herz und dein Verstand und irgendwo dazwischen tut’s weh
Mit gerade einmal neunzehn Jahren gelingt es Benedict Wells in Spinner – seinem eigentlichen Erstlingsroman – kaum greifbare Gefühle und die Orientierungslosigkeit einzufangen, die einen packt, wenn das Leben zwischen der Jugend und dem Erwachsensein aus der Bahn geworfen wird. Ich bin dankbar, dieses Buch gelesen zu haben.
Irgendwann in den Neunziger Jahren verschlägt es den zwanzigjährigen Jesper Lier nach seinem Zivildienst in einem Behindertenheim nach Berlin. Dort lebt er in einer winzigen Kellerwohnung, fast ohne Tageslicht, mit einer Badewanne in der Küche, ziemlich pleite und völlig anonym. Denn das Namensschild an seiner Tür hat er nicht geändert. Und sonst weiß eigentlich auch niemand, wo er wohnt, oder wie seine Telefonnummer ist. Seine Mutter, die mit Jespers jüngerem Bruder in München lebt, hält er mit Geschichten von der Uni und seiner Freundin Andrea auf dem Laufenden, doch das ist alles erfunden. Zur Uni ist er noch nie gegangen, obwohl er eingeschrieben ist, die Freundin existiert nicht. Stattdessen schreibt er, er schreibt und schreibt und das vor allem nachts, in der letzten Zeit auch betrunken. Er will Schriftsteller werden und überzeugt von seinem schriftstellerischen Talent soll sein Erstlingsroman „Der Leidensgenosse“, der mittlerweile mehr als eintausend Seiten umfasst, eben nicht nur ein Roman sein, sondern der Roman, ein episches Werk voller Leidenschaft und Tiefgang.
Schon komisch. Vor ein paar Jahren hatte ich noch das Gefühl gehabt, durchs Leben zu gleiten oder zu schweben, aber das war vorbei. Alles, was einmal schien, war plötzlich fremd und schwierig. Als hätte ich das Schweben verlernt.“ – S. 41
Dabei geht es mit Jespers Leben zunehmend bergab. Er schläft zu wenig und trinkt zu viel und den Kontakt zur Außenwelt hat er auf ein Minimum reduziert. Obwohl Jesper diese Abwärtsspirale erkennt, verdrängt er sie. Seine menschlichen Kontakte beschränken sich auf den Chefredakteur des Berliner Merkurs, bei dem er ein Praktikum macht, und seinen Freund Gustav. Gustav ist völlig anders als Jesper, laut und extrovertiert lebt er Dank des Vermögens seines Vaters auf großem Fuß. Irgendwann kommt Frank dazu, ein ehemaliger Schulfreund, zu dem der Kontakt abgebrochen war. Dieses ungleiche Trio lässt Benedict Wells eine Woche lang durch Berlin ziehen. Trotz ihrer Gegensätzlichkeiten haben die drei jungen Männer aber eines gemeinsam: Sie sind hin- und hergerissen zwischen ihren Träumen und den Erwartungen der Außenwelt, voller Angst einen falschen Weg einzuschlagen.
„…Also hören Sie mir auf mit wichtig. Das ist Bullshit. Wir sind doch nichts anderes als psychopathische Affen, die auf einer blauen Müllkugel durchs Weltall rasen. Wir sind verloren und dem Tod geweiht, und wir sollten lernen, das zu akzeptieren.“ Ich nahm meinen Geldbeutel in die Hand. „Zahlen bitte.“ – S. 148
Ich hatte keine Erwartungen an diesen Roman. Ehrlich gesagt, habe ich ihn gekauft, weil ich für eine lange Zugfahrt ein leicht zu lesendes Buch haben wollte, einen Pageturner, wie man so schön sagt. Doch damit lag ich weit daneben. Vielleicht waren es auch meine geringen Erwartungen, vor allem aber war es der Protagonist selbst, der Spinner für mich zu einem außergewöhnlichen Buch gemacht hat, mit einer solch enormen Sogwirkung, wie sie nur selten entsteht.
Benedict Wells und seine Figur Jesper Lier haben einige Parallelen: der Traum Schriftsteller zu werden, der Umzug von München nach Berlin, das über Wasser halten mit Aushilfsjobs etc. Die Vermutung, dass Benedict Wells die Fiktion mit eigenen Erfahrungen und Empfindungen unterfüttert hat, ist naheliegend. Das macht das Nachempfinden von Jespers Gefühlen und Gedanken leicht, nicht zuletzt weil ich viele dieser selbst vor nicht allzu langer Zeit durchlebt habe. Somit hat mich Spinner auch auf der persönlichen Ebene sehr getroffen. Der frühe Tod seines Vaters, den er nicht verarbeitet hat, und der Zivildienst im Behindertenheim lassen ihn mit einer Leere im Inneren zurück, die er nicht füllen kann. Verstärkt wird das durch die schleichende Erkenntnis, dass sein Roman, an dem er manisch gearbeitet hatte, um seinen Schmerz zu verdrängen, nichts taugt und einen weiteren Verlust, der sein ohnehin schon aus den Fugen geratenes Leben noch weiter durcheinander wirft. In diese Leere mischt sich zunehmend Wut, Wut auf sich selbst und alles um ihn herum. Diese Gefühle kenne ich durch den Verlust und die schwere Krankheit geliebter Menschen zu gut. Die Frage, was aus dem eigenen Leben wird, scheint angesichts des Schmerzes, der Trauer und des Todes drängender zu werden, als je zuvor. Wie Jesper habe auch ich mich in den Schutz der Einsamkeit gerettet, doch während dieser exzessiv an seinem Roman arbeitete, versuchte ich, die Leere durch Bücher und Serien zu füllen. Etwas, das mir nicht wirklich gelang. Und ebenfalls wie Jesper am Ende des Romans finde ich langsam ins Leben zurück. Benedict Wells Roman Spinner ist ein Buch, das mich nicht nur als eine spannende und manchmal skurril-komische Geschichte gefesselt hat, sondern darüberhinaus einen wichtigen Beitrag für mein eigenes Leben und für die Verarbeitung eigener Gefühle geleistet hat.
Benedict Wells: Spinner. Vom Autor überarbeitete Fassung. Diogenes 2016. 320 Seiten. 12 €.
Titel: Axel „Bosse“ Bosse, „Irgendwo dazwischen“, in: „Taxi“, 2009.
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