
17 Jun Wasser ist dicker als Blut
Elif Shafak gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen der Türkei. Seit zehn Jahren lebt die Schriftstellerin in London – aufgrund ihres neuen Romans Unerhörte Stimmen wird sie in der Türkei juristisch verfolgt. Eindringlich erzählt sie von außergewöhnlichen Menschen, die am Rand der Istanbuler Gesellschaft leben.
Im November 1990 liegt Tequila Leila tot und misshandelt in einer Mülltonne am Stadtrand von Istanbul. Entsetzt muss sie feststellen, dass ihr Herz nicht mehr schlägt. Noch ehe das Buch beginnt, ist sie bereits verstorben. Doch obwohl ihr Körper nicht mehr arbeitet, ist ihr Gehirn hellwach. Zehn Minuten und 38 Sekunden – solange dauert es, bis das Gehirn nach dem physischen Tod aufhört zu arbeiten. So viel Zeit hat Tequila Leila, um sich an ihr Leben zu erinnern: Es ist das Leben einer jungen Frau, die aus ihrem Elternhaus in Ostanatolien floh, um zwischen den Außenseiter*innen und Andersdenkenden im Istanbul der siebziger und achtziger Jahre Zuflucht zu suchen. Dort geriet sie jedoch bald auf die falsche Bahn und landete als Prostituierte in einem der ältesten amtlich zugelassenen Bordellen Istanbuls. Sie änderte die Schreibweise ihres Namens und lebte von diesem Zeitpunkt an nur noch in der Gegenwart.
Das Erste, was ihr in den Sinn kam, war Salz – das Gefühl von Salz auf der Haut und der Geschmack von Salz auf der Zunge. – S. 23
Doch jetzt da sie tot ist, rasen ihre Gedanken durch ihr Gedächtnis. Jede Minute, die verstreicht, bringt eine andere Erinnerung aus den Tiefen ihres Gedächtnisses zutage. Es sind Erinnerungen, die weh tun, geprägt von Gewalt, Unterdrückung und Verlust. Sie erinnert sich…
…an ihre Mutter, die die erste Ehefrau ihres Vaters ist und eigentlich keine Kinder bekommen kann;
…an ihren Vater, der westliche Kleidung schneidert, die die Frauen in seinem Haus aber nicht tragen dürfen;
…an ihre psychisch erkrankte Tante, die die zweite Frau ihres Vater und eigentlich ihre Mutter ist;
…an ihren Onkel, der sich zu ihr ins Bett legte, als sie noch ein kleines Mädchen war;
…und an ihre Freund*innen: Sabotage Sinan, Nostalgie Nalan, Jamila, Zaynab122 und Hollywood Humeyra. So abenteuerlich wie die Namen dieser fünf Freund*innen klingen, so außergewöhnlich waren deren Leben. Sie sind die Ungehörten Istanbuls, die am Rand der Gesellschaft leben. In ihrem Nicht-Dazugehören haben sie jedoch zueinander gefunden. Leila zu verlieren, bricht ihnen das Herz, sie hoffen, ihr die letzte Ehre erweisen zu können. Doch das gestaltet sich, wie die zweite Hälfte des Buches zeigt, schwieriger als gedacht.
Istanbul war eine fließende Stadt. Nichts hatte hier Bestand, nichts war hier ein für alle Mal entschieden. Begonnen hatte alles Jahrtausende zuvor, als das Eis schmolz, der Meeresspiegel anstieg, die Fluten wogten und alle bekannten Formen des Lebens untergingen. Wahrscheinlich flohen die Pessimisten als Erste aus dem Gebiet, während die Optimisten abwarteten, wie sich die Dinge entwickelten. – S. 422
Elif Shafak porträtiert in Unerhörte Stimmen die erbarmungslose Seite Istanbuls. Es ist eine Stadt der Gegensätze, in der Glück und Unglück, Gewalt und Freundschaft, Armut und Reichtum und die verschiedensten politischen Strömungen eng beieinanderliegen. Eine Stadt voller Chancen und voller Narben, wie Leila bei ihrer Ankunft festellt. Denn in Istanbul können Frauen misshandelt und vergewaltigt werden, ohne dass es die Polizei oder die Gesellschaft interessiert. Im Jahr 1990 kam es in Istanbul zu vermehrten Angriffen auf Sexarbeiterinnen – die fiktive Leila ist eine davon. Geschützt wurden die Täter durch den Artikel 438 das türkischen Strafgesetzbuches, der das Strafmaß um ein Drittel senkte, wenn der Täter nachweisen konnte, dass sein Opfer Prostituierte war. Obwohl der diskriminierende Artikel aufgrund anhaltender Proteste noch im selben Jahr abgeschafft wurde, hat sich seither wenig an den Bedingungen für Sexarbeiterinnen geändert. Elif Shafak gibt diesen Frauen in Unerhörte Stimmen eine Stimme und vor allem eine Seele. Sie macht die gesellschaftlichen Außenseiter*innen zu den Held*innen ihres Romans – jeder Charakter so skurril, jede Geschichte so komplex, dass dahinter eine eigener vielversprechender Roman darauf wartet, entdeckt zu werden. Elif Shafak zeigt, wie bereichernd Vielfalt für eine Gesellschaft sein kann und wie wichtig wahre Freundschaft ist. Wasser ist manchmal eben doch dicker als Blut.
Elif Shafak: Unerhörte Stimmen. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Kein & Aber, 2019. 432 Seiten. 24 €.
Mein Dank geht an Kein & Aber für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!
Thorsten J. Pattberg
Posted at 00:00h, 13 JuliEin guter Roman, der die Dinge zeigt wie sie sind, ohne dabei allzu radikal-feministisch daherzukommen. Allerdings macht mich stutzig, dass der Verlag eine Rezensionskopie einsendete. Das ist Manipulation and Werbung. Es wäre viel schöner, wenn sich Bücher von selbst nach Oben arbeiteten. Aber das ist in der korrupten Verlagswelt leider kaum mehr vorstellbar. Alles wird eingefädelt, bestochen, korrumpiert, haha.
Thorsten J. Pattberg, Autor der Lehre vom Unterschied
Cora
Posted at 11:27h, 14 JuliLieber Thorsten,
ich kann dir versichern, dass ich auf meinem Blog keine Werbung zeige. Ich wurde für die Rezension weder bestochen noch manipuliert. Ich habe das Buch unvoreingenommen – wie jedes andere Buch – gelesen und meine eigene Meinung dazu gebildet. Ein Rezensionsexemplar erleichtert mir lediglich die Arbeit und gibt mir und meinen Leser*innen die Möglichkeit, Bücher zu entdecken, die ohne finanziell für mich nicht möglich wären.
Liebe Grüße!
Cora